Ursprünglich wollten wir am 27. März 2023 nach unserer Montagsprobe mit unseren Gästen bei unserem Rheingauer Lieblingsitaliener „Piccolo Mondo“ in Eltville einkehren. Streikbedingt wurde daraus ein rein interner Austausch zu fünft, denn die Eingeladenen konnten nicht anreisen. Positiv denken heißt, dass man die Flinte erst ins Korn werfen sollte, wenn die Munition alle ist… Kurzerhand änderte Herr Mrcela deshalb die Auswahl der Weine des Abends, die für den Restaurantbesuch geplant waren. So kamen wir in den Genuss einer Blindverkostung, die es in sich hatte. Reihenweise neue Erkenntnisse traten an diesem besonderen Abend ans Licht. Den Gewerkschaften sei gedankt.
Wir starteten mit einer 2016er Grande Cuvée Chardonnay Brut Nature von Franz Keller aus dem badischen Kaiserstuhl. Niemandem kam in den Sinn, dass es sich um einen deutschen Sekt handeln könnte. Verführerische Brioche-Aromen, facettenreich, elegant, feinste Perlage. Auf dem Niveau einer Prestige Cuvée aus der Champagne. Noch haben wir davon, aber warten Sie nicht zu lange.
Es folgte ein „echter“ Champagner in Form von Bollinger B13, einem Unikat aus dem Jahr 2013, welches den hohen Ansprüchen des Hauses Bollinger, daraus einen La Grande Année zu bereiten, nicht gerecht wurde. Die Grundweine präsentierten sich jedoch so charaktervoll, dass man sich entschloss, daraus etwas aufregend Neues zu kreieren, anstatt alles der Bollinger Special Cuvée zugutekommen zu lassen. Heute begeistert der B13 durch seine überaus anregende Frische, seine pikant-würzige Frucht und seine durch und durch lebhafte Art. Ein Solist, der in der Tat auch als Aperitif gekonnt das Parkett aufwirbelt.
Der nachfolgende Weißwein zeigte bereits beim Hineinschnuppern GGG Niveau: GANZ GROSSES GEWÄCHS. Mein Kollege Kilian streifte den Apfel bereits mit dem ersten Schuss und vermutete einen Rheingau Riesling von Peter Jakob Kühn. Wir anderen waren beeindruckt, denn im Glas stand der 2019er Labeja Riesling von Alex Saltaren aus Oestrich-Winkel. Unser Freund Alex arbeitet nämlich zusätzlich wo? - bei Peter Jakob Kühn! Unglaublich, wie der als Jungwein noch etwas wilde, fordernde und nicht unmittelbar als Rheingauer erkennbare Riesling an Konturen gewonnen hat. Heute bietet er geschmacklich Rheingau pur. Der Ausbau im Holzfass stützt den Wein formidabel, das Holz bleibt mit seinen Aromen aber dezent im Hintergrund. Die Frucht kommt präzise an, am Gaumen verbindet sie sich perfekt mit feiner Säure. Die grandiosen Rieslinge von Alex Saltaren sollten eigentlich längst in aller Munde sein… wir arbeiten daran und Sie können uns dabei helfen. Uneingeschränkte Kaufempfehlung.
Nun zum 2015er „Trois Cépages“ von Domaine du Pélican aus dem Jura: Verschämt blickte ich auf den Boden und dachte: Wie kann es sein, dass wir diesen Jahrgang überhaupt noch am Lager haben? Die Cuvée aus Pinot Noir und den beiden autochthonen Rebsorten Trousseau und Poulsard bringt wunderbar kräuterwürzige Rotweine hervor, sehnig, straff und mit animierend frischer Säure ausgestattet. Der 2015er ist ein Paradebeispiel und schreit förmlich nach einer Schinkenplatte oder Lamm-Koteletts, um seine Wirkung zu entfalten. Hören Sie ihn? Prima, wir freuen uns auf Ihre Bestellung.
Und jetzt sind wir im Burgund angekommen. Diese herrlichen Noten von Schwarzkirsche, Brombeere und Himbeere und dazu die satt-süße Pinot Noir Frucht. Burgund? Verständlich, aber danebengetippt. Meine Kollegin Sabrina erkannte ihn ohne Umschweife als Pinot Noir aus Oregon. Der 2017er Pinot Noir Willamette Valley von Nicolas Jay wird von Jean-Nicolas Méo gemacht. Mit Letzterem arbeiten wir seit Anfang 1990 zusammen, die roten Burgunder seiner Domaine Méo-Camuzet zählen zur absoluten Weltspitze. In Oregon produziert er mit seinem amerikanischen Partner Jay Boberg hervorragende Pinot Noir Weine, die wir Jahr für Jahr importieren. Regelmäßig narren sie die Profis als Piraten in Burgunder-Proben. Der 2017er Willamette Valley hat sein Trinkfenster für uns geöffnet und poliert. Glänzende Aussichten für Pinot Noir Liebhaber:innen. Schlagen Sie den Bogen vom Burgund nach Oregon!
Der Abschluss des genussreichen Abends geriet zu einer Reise in die Vergangenheit. Im Glas strahlte goldgelb ein Sauternes. Im Duft unverkennbar, am Gaumen unvergleichlich und als Fazit vielleicht unsterblich. Zumindest bot der Süßwein keinerlei Anhaltspunkt, ob er 20 Jahre alt oder noch 20 Jahre älter sein mochte. Neid kam auf. Innerlich schwelte in mir auf kleiner Flamme noch immer die Frage einer Fahrkartenverkäuferin… Senioren-Ticket? Das würde dem 1981er Château Climens niemals passieren. Trotzdem können mit Ausnahme von Château d‘Yquem sämtliche Sauternes-Hersteller ein Lied davon singen, dass das Leben ungerecht ist. Jedes Jahr kommt eine neue Strophe hinzu und seit nunmehr einem Vierteljahrhundert interessiert sich hierzulande kaum jemand für Sauternes. Das ist aus vielerlei Gründen verwunderlich, zumindest für Leute aus der Baby-Boomer-Generation wie mich. Unser Übergang von der Muttermilch zum Wein war fließend, denn nahezu alle Baby-Boomer wurden in die süße Wein-Welle getaucht. Aber wir schwammen gerne darin und Sozialisation per Süßwein war die Norm. Ich erinnere mich freudig an köstliche, zuckersüße Albiger Hundskopf Huxel- oder Siegerrebe Spätlesen aus den 1970er Jahren, die meine Eltern zu Feiertagen für die Familie öffneten.
Sauternes lebte immer vom legendären Ruf von Yquem, aber der Umschwung auf leichtere, gesündere Küche und vor allem trockene Weine ließ die Nachfrage nach Süßweinen aus Sauternes und Barsac verebben. Das hat dazu geführt, dass Weinfreund:innen am Markt auch ältere Sauternes-Jahrgänge zu vergleichbar günstigen Preisen erstehen können. Nix Inflation: Stillstand. Überlegen Sie mal, wann Sie das letzte Mal eine Flasche Rieussec, Suduiraut, de Fargues oder Coutet geöffnet haben. Berühmte Namen, die langsam aus dem Weingedächtnis verschwinden. Bis dann eine großartige Flasche wie dieser 1981er Château Climens aus dem Barsac auf den Tisch kommt. Das innere Leuchten dieses nahezu perfekt balancierten Weines war überwältigend. Ein KLEINER Jahrgang, der hier über sich hinauswuchs. Intensive, reintönige Honignote, feinste Süße, getrocknete Kräuter, prägnante Säure. Von zeitloser Schönheit. .
Hans-Jürgen Teßnow, 30.03.2023