Weinbar Weimar – Alles hat ein Ende, nur der Hirsch hat zwölf
Den zweiten Advent 2022 werde ich bestimmt nicht so schnell vergessen. Nach einem langen Spaziergang durch den nebelverhangenen Park von Schloss Belvedere war ich schon sehr gespannt auf den Abend in der Weinbar Weimar. Ursprünglich wollte ich ihr bereits Freitag- oder Samstagabend einen Besuch abstatten, aber ich war zu spät dran und kein Tisch mehr frei. Inhaber Philipp Heine empfahl mir alternativ den Sonntagabend. Es stand eine besondere Advents-Veranstaltung auf dem Programm. Der passionierte Jäger und Hobbykoch Christian Meyer-Landrut stellte sein Kochbuch „57 Wilde Gerichte aus dem Wald“ vor und die Küche der Weinbar würde fünf Rezepte davon zubereiten. 89 Euro pro Person, zwei Plätze wären noch zu haben. Ich zögerte nicht lang und sagte zu. Auf der Webseite fand ich keinerlei nähere Informationen und dachte mir, dass es sicher nicht fünfmal hintereinander Wild geben würde. Ein Irrtum wie sich herausstellte.
Für einen Teilzeit-Vegetarier wie mich (meist Mo.-Do., sowie täglich zwischen 22.00 und 12.00 Uhr, feiertags gelten Ausnahmeregelungen) eine gewisse Herausforderung. Würde ich auf dem Heimweg den Mond anheulen oder später schlafwandelnd den winterlich zugeschneiten Waldboden nach Eicheln durchgrubbern?
Die Weinbar Weimar hat über 100 Weine im offenen Ausschank, alternativ ich hätte zum Fünf-Gang-Menü eine empfohlene Weinbegleitung zum Preis von 44 Euro wählen können. Indes hatte ich Wilderes im Sinn. Auf der attraktiven, mit viel Kenntnis und Herzblut zusammengestellten Weinkarte fiel mir der 2019er Atanasius von Gut Oggau aus dem österreichischen Burgenland ins Auge. Über die weitab vom Mainstream im wahrsten Sinne des Wortes vor sich hin bitzelnden Naturweine hatte ich schon viel Gutes gehört. Die Etiketten mit schwarz-weiß Portrait Zeichnungen haben einen hohen Wiedererkennungswert. Das Weingut ist Demeter zertifiziert und sämtliche Weine sind in nahezu jeder Hinsicht ungezähmt. Der 2019er Atanasius ist eine Cuvée aus Blaufränkisch und Zweigelt. Ein Rotwein mit neudeutsch „Funk“ - im Bouquet fanden sich noch hefige Gäraromen, rote Beeren, Pflaume, Kräuter, nasse Steine. Naturtrüb und noch immer fein perlende Kohlensäure im Glas. Die Säure prägnant und anregend, die Frucht animierend. Zwar hätte ich bei einer Blindverkostung des Atanasius niemals den Weg in Richtung der Rebsorten Blaufränkisch oder Zweigelt gefunden, aber losgelöst von allen Konventionen ist es ein wirklich spannender Wein, der sich als Partner der fünf Wildgänge hervorragend eignete. Kommt es nicht genau darauf an?
Die fünf Gänge aus Christian Meyer-Landruts Kochbuch waren wirklich sehr schmackhaft, obwohl ich gleich beim Lesen des ersten Gangs der Menüfolge zusammenzuckte: Reh-Tatar. Alle Ernährungsratgeber raten eindringlich davon ob, Wildfleisch roh zu verzehren. Das Tatar war nichtsdestotrotz ein kulinarischer Höhepunkt. Es folgten köstliche Mezzelune mit Reh-Schulter, Pilzen und Artischocken, Zürcher Geschnetzeltes vom Rotwild mit Rösti, Ossobucco vom Hirsch nach Mailänder Art mit Polenta und zum Abschluss geräucherter Schinken und Wild-Salami.
Ein lehr- und kalorienreicher Abend. Die Weinbar Weimar ist wirklich außergewöhnlich, der Service locker und freundlich. Einzig hätte ich erwartet, dass man als Gast gefragt wird, ob weitere Flaschen Wasser gewünscht werden, sofern diese nicht gratis bleiben und stattdessen mit 8 Euro üppig zu Buche schlagen.
Die Nacht verlief ohne besondere Vorkommnisse, wenn ich davon absehe, dass in meinen Traum ein kapitaler Hirsch aus dem Dickicht hervortrat und voller Inbrunst „Ricke, don’t lose that number“ ins Morgengrau röhrte.
Special credits to:
Steely Dan: “Rikki, don’t lose that number”, Pretzel Logic, 1974
Ricke: weibliches Reh