Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie eine alte Flasche aus Ihrem Weinkeller hervorholen und den Jahrgang auf dem Etikett betrachten. Die Weinflasche muss noch nicht einmal geöffnet sein, um etwas in mir auszulösen. Allein der Anblick der vier Ziffern, in diesem Fall 1 9 9 0 lässt meine Gedanken auf eine Zeitreise gehen. 1990…, die ehemaligen Alliierten erlaubten uns, aus zwei Staaten ein Vaterland zu machen. Durch westdeutsche Straßen knatterten die Zweitakt-Motoren der Trabants und trotz der bläulichen Abgasfahnen fielen in der Bonner Republik die Vögel nicht tot vom Baum. Der Warschauer Pakt zerfiel und die ehemalige Sowjetunion näherte sich dank Gorbatschow unserer Wertegemeinschaft an. Kalter Krieg adé! Wir glaubten fest an Europas Zukunft ohne Krieg und Russland als Partner… Ich hatte im Sommer 1990 mein Praktikum Weinbau und Kellerwirtschaft auf Schloss Vollrads beendet und bewegte mich in Richtung Weinhandel. Der Herbst 1990 war in nahezu allen Weinregionen Europas von außerordentlicher Güte, so, als wollte uns die Natur ein besonderes Geschenk machen. Mitte Oktober 2022 habe ich mit Freunden fünf Weine des Jahrgangs 1990 geöffnet und wenig später eine Sechste. Hier sind meine Verkostungsnotizen.
1990 Champagne Bollinger R.D.
Als WeinArt im Jahr 2003 Exklusiv-Importeur des berühmten Champagner Hauses Bollinger wurde, bekamen wir neben der hervorragenden Special Cuvée ebenfalls jährlich eine Zuteilung der grandiosen Jahrgangs-Champagner Grande Année (heute La Grande Année) und R.D. Wir hatten das große Glück, gleich zu Anfang den großen Jahrgang 1990 des R.D. zu erhalten, von dem ich seinerzeit zwei Flaschen kaufte. Die jetzt geöffnete letzte Flasche (schnief) wurde im September 2002 degorgiert und hatte folglich 20 Jahre Flaschenreife auf dem Buckel. Meine Geduld wurde aufs Trefflichste belohnt: Der Korken saß noch fest, statt eines müden Pfffffft gab die Flasche ein sattes PLOPP! von sich. Das ist immer ein gutes Zeichen. Farblich eher golden, strahlend klar und mit feinster Perlage versehen. Dem Glas entstieg ein hochgradig animierender Duft von warmer Brioche, gerösteten Haselnüssen, Kräutern und Blütenaromen. Am Gaumen enorm vielschichtig, reintönig, feine Säure, die Frische verleiht. Elegant und sehr lang im Abgang. Eine denkwürdige Flasche.
1990 Gewürztraminer Hengst Grand Cru, Vendange Tardive, Zind Humbrecht, Elsass
Als ich Anfang der 1990er Jahre im Weingut / Weinhandel Schwarzer Adler von Franz Keller arbeitete, lag das Elsass ja praktisch vor der Haustür. Regelmäßig bin ich vom Kaiserstuhl über die Grenze gefahren, sei es, um von der unübertroffenen Käseauswahl in Frankreichs Supermärkten zu profitieren oder aber um einige der Spitzenweingüter wie Domaine Weinbach, Marcel Deiss oder eben Zind-Humbrecht zwecks Einkaufs vor Ort zu besuchen. Dieser restsüße Gewürztraminer Vendange Tardive (entspricht in Art der Lese und Traubenreife ungefähr einer deutschen Auslese) von 1990 stammt aus dieser Zeit und auch sie begeisterte uns. Das typische, nach Rosen und Rosenblättern duftende Bouquet des Gewürztraminers war glockenklar und intensiv, sehr sinnlich, man sollte es als Zind No. 9 neben die Chanel Düfte stellen. Kraftvoll, gut stützende Säure, verführerische Süße ohne jede Bitter- oder Seifennote, die Traminer-Weine manchmal leider zeigen. Ein wundervoller Wein!
1990 Clos de la Coulée de Serrant, Savennières, Nicolas Joly, Loire
Die biodynamischen Weißweine von Nicolas Joly, erzeugt aus der Chenin Blanc Traube, genießen seit Jahrzehnten einen legendären Ruf. Sie sind nicht jederfrau*manns Sache, denn oft genug gibt es gewaltige qualitative Flaschenunterschiede innerhalb ein und desselben Kartons. Bei älteren Jahrgängen rate ich Ihnen, unbedingt auf Füllstand und Farbe des Weins zu achten. Ist die Füllhöhe gut und der Wein hell, dann ist das Risiko einer Enttäuschung sehr gering. Es kann Ihnen höchstens passieren, dass Ihr Coulée de Serrant am nächsten oder übernächsten Tag deutlich besser schmeckt als frisch nach der Öffnung. Die von mir geöffnete Flasche war optisch perfekt und ich entschied mich, den 1990er nicht zu dekantieren. Der 1990er Coulée de Serrant zählt zu den besten Jahrgängen, einzig den ultrararen 1975er habe ich je besser getrunken. Die Flasche überzeugte vollends, präziser kann man die Aromatik von Chenin Blanc kaum herausarbeiten. Eine Wiese wilder Kräuter, in der ein kühler, sauberer Bach über dicke Kieselsteine fließt. Verrückt? Ja, ich bekenne mich schuldig. Ein einzigartiger Wein, den man in dieser Form getrunken haben muss. Ausdrucksstark, intensiv, kräuterwürzig und lang anhaltend.
1990 Bandol, Chateau Pradeaux
Die lediglich ca. 1500 ha kleine Appellation Bandol liegt direkt an der französischen Mittelmeerküste, westlich von Toulon. Seit 1941 hat Bandol die AOC (kontrollierte Herkunftsbezeichnung), aber Château Pradeaux existiert bereits seit 1752 als Besitz der Familie Portalis. Die roten Bandol-Weine sind bekannt für ihr großes Alterungspotenzial. Vor einigen Jahren probierte ich erstmals den 1990er von Château Pradeaux, der zeigte sich sehr tanninbetont und verschlossen zeigte. Jetzt nach 32 Jahren sind die Tannine weicher geworden und die Frucht kommt hervor. Pradeaux setzt auf einen sehr hohen Anteil der Rebsorte Mourvèdre, meist 90% oder höher. Das Bouquet glänzt mit Noten von schwarzen Oliven, Lorbeer, Thymian und Unterholz. Am Gaumen dicht, straff, würzig, die Frucht wird von noch immer präsenten Tanninen begleitet, aber nicht dominiert. Diese randvolle Flasche würde sicher weitere zwei Jahrzehnte weiterreifen. Ein erstaunlicher und wirklich guter Rotwein, der in gewisser Weise an die tanninlastigen aber guten Bordeaux-Weine der Jahrgänge 1986 und 1975 erinnert.
1990 Château Grand Puy Lacoste, Pauillac, Bordeaux
Ein Wein, den ich direkt nach seiner Marktfreigabe gekauft hatte. Der 1990er Grand Puy Lacoste zählt für mich neben dem 1982er zu den besten Jahrgängen des Châteaus. Er hat sehr lange benötigt, um sich öffnen, doch jetzt befindet er sich in einer unwiderstehlichen Genussphase, die bei gut gelagerten Flaschen sicher weitere zehn bis 15 Jahre anhalten wird. In der Nase reife Blaubeeren, Graphit, Kräuter, Teer und ein Hauch Paprika, letzterer ein Indiz für Cabernet Sauvignon. Der 1990er befindet sich in perfekter Balance, sehr elegant, die Frucht reif und stets fein, die Tannine geschliffen. Ein großer Bordeaux Wein, der mit lediglich 12,5% Vol. % den vergeblichen Wunsch nach der Rückkehr der Bordeaux Klassiker aus der Zeit vor dem Klimawandel weckt.
1990 Assmannshäuser Höllenberg Spätburgunder Spätlese trocken, Domäne Assmannshausen
Wirklich gute TROCKENE Rotweine wurden in Deutschland frühestens ab Mitte der 1980er Jahre erzeugt. Die Spätburgunder der Staatsdomäne Assmannshausen waren trotzdem immer hervorragend. Die hier besprochene 1990er Spätlese trocken hat zwar nur 11,5% Vol. %, ist aber ausdrucksstark und erstaunlich frisch. Im Duft zweifelsfrei als Assmannshäuser Spätburgunder zu erkennen; rote Johannisbeeren, Himbeeren, Pflaume, dazu Eisen, Waldboden und getrocknete Kräuter. Zarte Süße und animierende Säure, keinerlei Zeichen von Überalterung. Macht mehr als nur Freude und führt den Beweis, dass nicht nur die berühmten Pinot Noir Weine der Côte d’Or lange reifen können.